ANNAPURNA CIRCUIT – NEPAL
AUF DEM WEG ZUM THORONG LA PASS
Heute erzähle ich euch von meiner wohl bisweil größten Heldentat: meiner Wanderung über den Thorong La, den höchsten Pass Nepals und zudem der ganzen weiten Welt. Puh, da muss ich direkt erst mal Luft holen.
Die Überquerung des Himalaya, wie ich es so gerne dramatisch bezeichne, war das wirklich Tollste, Beeindruckendste und Spektakulärste was ich in meiner bisherigen Wanderkarriere erlebt habe – aber auch das Naivste – und Schrecklichste. Ja, es war auch ein bisschen schrecklich. Bis heute frage ich mich, wie ich glauben konnte, dass es superspaßig sein würde, eine so karge, öde, schroffe, gar bedrohliche Landschaft auf knapp über 5400 Metern Höhe zu Fuß zu bereisen.
Dann war er da, der Tag der Passüberquerung. Ich hasste jede einzelne Sekunde. Nie zuvor hatte ich etwas so unglaublich Anstrengendes getan und Schritt für Schritt geriet ich in eine ziemlich ausweglose Situation, aus der ich es einzig allein mit viel Willenskraft und Durchhaltevermögen wieder heraus schaffte. Nach diesem Tag habe ich mir geschworen, so etwas nie, wirklich NIE wieder zu tun.
Bevor also nun zu viel Zeit vergeht und ich auf die Idee komme, dass alles halb so wild war und irgendwie ja doch ganz spaßig, erzähle ich euch hier ganz unverblümt und ungeschönt meine sehr persönliche Erfahrung vom Thorong La, dem höchsten Punkt des Annapurna Circuits.
TRAILSTECKBRIEF
ANNAPURNA CIRCUIT #THORONG LA PASSÜBERQUERUNG
Start – Ziel: Thorong Phedi (4520m) – Muktinath (3760m)
Höchster Punkt: 5416m (Thorong La)
Länge: 14 Km
Gesamtaufstieg/-abstieg: 900m / 1650m
Dauer: 13 Stunden (mit sehr vielen Pausen)
Sinn & Zweck: Keiner. Wirklich keiner.
Sauerstoffgehalt: 48%
Den kompletten Trail-Steckrief des Annapurna Circuits findet ihr übrigens hier .
CLIMB HIGH
Das ganze Spektakel begann mit der wahnwitzigen Idee, statt der für diese Höhen empfohlenen 300-500 m knapp über 700 m an einem Tag aufzusteigen. Wir wollten es am Abend vor der Passüberquerung bis zum High-Camp schaffen, um die folgende, sicherlich sehr anstrengende Etappe zu verkürzen und damit etwas angenehmer zu gestalten. »Climb High, Sleep Low«, für diese Nacht wollte ich die vielgelobte Königsregel ignorieren.
Unsere letzte Etappe vor der großen Passüberquerung beginnt im kleinen Dorf Yak Kharka auf circa 4200 m. Nach unserer morgendlichen Routine (Rucksack packen, Wetter checken, Porridge löffeln) wandern wir zielstrebigen Schrittes über einige Yakweiden, weiter entlang der gefürchteten Landslide Area (die aber überhaupt nicht schlimm ist!), um dann nach einigen Stunden müde lächelnd am Loser-Lower-Camp vorbeizuziehen und den Trail die letzten knapp 400 Höhenmeter im Zickzack hinauf zum Winner-High-Camp zu schlendern. Easy… ;-)
Edit: Wenn ich hier von »wir« spreche, dann meine ich meine in Nepal auf dem Trail kennengelernte Wanderpartnerin Serap und mich. Wir haben uns wirklich »nicht gesucht, aber glücklich gefunden« sag ich immer. :-D
… Zugegeben, so easy war es nicht, aber auch nicht so anstrengend wie befürchtet. Die wachsende Vorfreude und Nervosität wegen der bevorstehenden Passüberquerung trugen sicher ihren Teil dazu bei.
HIGH-CAMP
Am späten Nachmittag im High-Camp angekommen, beziehen Serap und ich bei etwa sechs Grad Außentemperatur … unsere Junior-Suite mit 360 Grad Pavillonblick, Kingsizebetten und Fußbodenheizung … unsere kleine Bretterbude, die sich scheinbar gerade noch so an dem steilen Berghang halten kann. Darin zwei Holzpritschen ohne alles, eine nicht funktionierende Tür ohne alles, ein kleines Südfenster – ja, ohne alles. Hier pfeift der eisige Bergwind ordentlich durch alle Ritzen, Spalten und Holzporen und sorgt für ein der Situation angemessenes Raumklima. Ein kleines Gemeinschaftsklo vor der immer offenen Tür rundet den Luxus dieser Nacht ab.
Noch schnell eine kleine Akklimatisierungstour auf den 150 Meter hohen High-Camp-Viewpoint bevor es dunkel wird und dann fiebern wir bereits den schönen Dingen unseres aktuellen Lebens entgegen: dem allabendlichen Abendkakao und Abend-Dal-Bhat mit Abendgesellschaft im (Abend)Gemeinschaftsraum des Camps.
Die eher schöne Seite des Thorong High Camps
SLEEP LOW
Hier oben im High-Camp versammelt sich die Crème de la Crème aller Hardcore-Bergsteiger, Lebenskünstler und Orientierungslosen. Ich reihe mich unauffällig ein, schaue müde in meinen Kakao als plötzlich alles schwankt: das High-Camp, mein Stuhl, die Lebenskünstler. Oha, Höhenkrankheit im Anmarsch!
Auch die in Nepal hochgelobte Knoblauchsuppe für Höhenkranke, kann mich nicht mehr aufheitern. Ich löffle gerade das letzte bisschen Hoffnung aus meiner Schüssel, als hektisch diskutierende Nepalesen und Hardcore-Bergsteiger innerhalb weniger Sekunden in einer Nacht- und-Nebelaktion beschließen: »Rebecca needs to go down.«
»Na subbi.« denk ich mir.
Ein hilfsbereiter, nepalesischer Bergführer in Ausbildung, der mich begleiten möchte, macht sich in Nullkommanix aufbruchbereit. Meine Wenigkeit wird dazu nicht befragt. Ich darf noch das Nötigste für die Nacht in einen Jutebeutel stopfen und die Wanderstiefel schnüren. Den Rucksack und all mein restlichen Sachen lasse ich in meiner Holzhütte zurück, die erstaunte Serap übrigens auch.
Schon wenige Minuten später stapfe ich in meiner feinen Schlafklamotte und mit schwach leuchtender Stirnlampe den Hang wieder hinunter, vorbei an einer Herde verwundert dreinschauender Blauschafe, die so viel nächtlichen Trubel scheinbar auch nicht gewohnt sind, dem weit, weit entfernten Licht des Loser-Lower-Camps entgegen. Die Niederlage meiner bisherigen Wanderkarriere.
Das mit den Blauschafen erwähne ich hier so lapidar, aber es war wirklich ein unglaubliches Glück, eine solche Herde so nah zu erleben! Etwa 10-12 leuchtende Augenpaare blickten mich aus der Dunkelheit an. Die Tiere sind sehr scheu und leben in großen Höhen zwischen 3000 und 5000m, manchmal sogar bis 6500m. Bei Gefahr fliehen sie in steile Hänge, weshalb man sie als normaler Zweibeiner so gut wie nie zu Gesicht bekommt.

LOSER-LOWER-CAMP
Unten angekommen verordnet mir meine netter Begleiter wieder Knoblauchsuppe und frühen Schlaf. So knipse ich noch heimlich ein paar Fotos von der Milchstraße, bestaune die riesigen Berge in der Dunkelheit, esse meinen Weg-Schokoriegel, ein paar Chips und krieche dann bei etwa minus vier Grad Raumtemperatur in meinen Luxus-High-End-Daunensack… und friere.
Schlaf finde ich so gut wie keinen, zu groß ist die Aufregung der letzten Stunden und zu groß ist die Sorge vor der morgigen Königsetappe zum Thorong La, die sich mit dem nächtlichen Abstieg wieder um knapp 400 Höhenmeter verlängert hat. Easy. Nicht.
Heimliche Sternenknipserei
DER GROSSE TAG
It’s not the mountain we conquer but ourselves.
Sir Edmund Hillary
Keine fünf Stunden später reißt mich mein Urlaubswecker um 3:45 Uhr dann aus dem ohnehin nicht sehr tiefen Schlaf, zurück auf den Boden der Tatsachen und erneut auf den steilen Pfad Richtung High-Camp. Ufff. Ob dieses ganze »Rebecca-needs-to-go-down-und-needs-auch-no-sleep-und-richtig-viel-Anstrengung« so schlau war und ob die wenigen Stunden ausgereicht haben, um die Höhenkrankheit zu überwinden, lasse ich an dieser Stelle mal weitgehend unkommentiert. Außer Müdigkeit, Anspannung und ein wenig vom Universum veräppelt, spüre ich derzeit aber sonst nichts und so mache ich mich reichlich optimistisch mit Jutebeutel unterm Arm und frisch aufgeladener Stirnlampe wieder an den Aufstieg. Schritt für Schritt der Dunkelheit des noch schlafenden High-Camps entgegen.
»Haaallooooo Seeerap!« rufe ich irgendwann keuchend in die Dunkelheit.
»Schöne Scheisse!« höre ich es prompt im Echo antworten. Wiedersehensfreude auf beiden Seiten also.
Meine Wanderpartnerin steht schon abflugbereit in unserer schmucken Hütte am Hang. Ich hatte sie wohl längst mit meiner penetranten Leuchte auf dem Kopf zum Aufstehen animiert. Ihre Nacht scheint auch nicht besser gewesen zu sein als meine. Gierige Mäuse hatten sich über unsere Rucksäcke hergemacht und sich bis zum Proviant vorgearbeitet.
Ich muss in der stockdunklen Hütte noch meine restlichen Sachen zusammensuchen und in den Rucksack packen, was nicht nur eine Weile dauert, sondern auch ziemlich chaotisch ist. Manches landet im falschen Rucksack, manches vergesse ich, der Rucksack ist auch nicht gut gepackt. Dann füllen wir noch schnell unsere Trinkflaschen mit warmem Wasser und machen uns auf den Weg. Heute dürfen wir nicht trödeln, schließlich haben wir Großes vor. Bis um 9:00 Uhr müssen wir über dem Pass sein, dann fegen die Winde um diese Jahreszeit über die Berge des Himalaya. Meine Recherchen im Vorfeld haben ergeben, dass man die Uhr quasi danach stellen könne.
JETZT BLOß NICHT STERBEN
»Pünktlich« um 6:00 Uhr bläst der Wind. Extra-Strong. Der plötzliche Orkan pustet mich fast um. Eine beißende Kälte setzt sich auf meinen Wangen, meiner Nase, meiner Lunge fest und gefühlte Windstärke zwölfnhalb peitscht mir ins Gesicht. Herrlich. Kälte, genau mein Ding. Mein Super-Gletscher-Yeti-Fleece-Tuch, das ich mir vor Mund und Nase gebaut habe, wird steif vom Atem und der Kälte. Mit Tuch bekomme ich kaum noch Luft, ohne Tuch ist es viel zu eisig zum Atmen. Meine Nase friert ein, tut weh und irgendwann spüre ich sie gar nicht mehr. Bis zu diesem Tag wusste ich gar nicht, dass das überhaupt möglich ist. Meine Finger schmerzen so sehr, dass ich befürchte, einen davon im Himalaya zu lassen. Es.ist.brutal.
Minute um Minute vergeht – Meter um Meter – stehen bleiben – nach Luft ringen – ein Schritt weiter – stehen bleiben – noch ein Schritt – stehen bleiben – nach Luft ringen und jetzt bloß nicht sterben.
Dann, endlich geht die Sonne auf. Immerhin sehe ich nun was und die steilsten Passagen scheinen hinter mir zu liegen. Wie elendig es mir zu der Zeit schon geht, erkannt man daran, dass es statt der üblichen drölfhundert Fotos nur ganze drei gibt. Eins davon verwackelt. Enjoy. ;-)
Ich brauche eine Pause, einen Plan, möglicherweise auch einen Helikopter. Viel trinken in der Höhe, haben sie gesagt… mein Trinksystem ist bei den tiefen Minusgraden allerdings eingefroren, eine einzige Eisbombe. »More heavy!« lacht der Nepalese neben mir, zeigt auf den Eiszapfen der sich aus der Flaschenöffnung wölbt, und spaziert an mir vorbei. Der Weg zum Pass füllt sich immer mehr und mehr mit erschöpften Wanderern, schwer atmend, vor sich hin schlurfend. Aphatisch. Auf dem Trail herrscht absolute Stille, niemand redet, jeder ist hier für sich, jeder versucht es nur irgendwie zu schaffen. Ein gruseliger, fast surrealer Anblick, wie Zombies die durch diese bedrohlich wirkende Landschaft schleichen. Langsam macht sich Verzweiflung in mir breit, und ein bisschen Panik. Nach der Panik die Resignation.
(Ja, da waren auch die Wanderer, die an einem vorbeischlendern, als wären sie gerade auf ihrem Sonntagsspaziergang durch die Lüneburger Heide. Ich erinnere mich dunkel. Ich möchte nicht drüber reden. Danke. Zu eurer Be(un)ruhig: Es waren sehr, sehr wenige. Den meisten erging es ähnlich wie mir!)
Gut, Himalayas, ihr habt gewonnen!
So setze ich mich völlig erschöpft, schluchzend und fluchend über zu viel Courage die mich hier hochgetrieben hat auf einen kalten Stein am Wegesrand und warte – auf eine Idee, auf Erlösung, auf was auch immer, auf Serap.
Wo ist Serap eigentlich? Ich weiß es nicht. Irgendwo vor mir, vermute ich. Serap war einfach schneller als ich. War jetzt auch nicht so schwer. Wieder schluchze ich bei dem Gedanken hier oben ganz allein zu sein. Mir geht es zunehmend schlechter, mein Kopf dröhnt und mir wird übel, ich kann mich kaum konzentrieren, aber ich versuche zu denken. Die letzten noch nicht vor Kälte erstarrten Gehirnwindungen in meinem Kopf schalten auf Notfallmodus. Doch schnell wird klar: Es gibt kein Zurück mehr – zu weit, zu erschöpft, zu kalt zum Umkehren! Auch der Wind wird immer stärker! Mein kleines am Rucksack baumelndes Thermometer zeigt nun minus 19 Grad an, ich würde es definitiv nicht mehr zurück ins High-Camp schaffen. Es scheint aussichtslos, ich MUSS über den Pass, es gibt nur noch diesen einen Weg.
Ein Schoko-Kokos-Haferkeks soll mich über das aktuelle Geschehen hinwegtrösten. Ich krame gerade nach ihnen in der Seitentasche meines Rucksacks, als ein Nepalese mit Muli plötzlich neben mir stoppt und mich ermahnt: »You have to move! People die from the wind!«. Schon springe ich auf und schmeisse den Turbo an: Ganze fünf Schritte und meine gefühlt erbsengroßen Lungen ringen wieder nach Luft. Der Nepalese mit Muli fragt mich besorgt, ob ich Hilfe brauche. Eigentlich ja, aber ich kann ihn für seinen Muli-Lift, den er mir anbietet, nicht zahlen. Zu allem Überfluss laufe ich nämlich gerade auch noch mittellos über den Thorong La.
Der Nepali klopft mir seufzend auf die Schulter, wünscht mir »Good luck!« und sagt noch schnell, dass es nicht mehr weit sei, »Just 15 minutes and around the corner«. Dann schließt er noch schnell die Seitentasche meines Rucksacks: »Don‘t lose your cookies!«, eine für mich in diesem Moment total herzliche Geste. Ich weine noch ein wenig, schaue dem hübschen Muli hinterher und mache mich auf den Weg zu den angeblich letzten 15 Minuten… und einigen weiteren 15 Minuten.

FINALE
Hinter jeder Bergkuppe vermute ich den Pass. Mehrmals werde ich enttäuscht und werde wieder langsamer und langsamer. Plötzlich taucht neben mir eine Schweizer Wanderin auf, die ich vor ein paar Tagen auf dem Trail kennengelernt habe. Meine Rettung. Auch sie läuft mittlerweile alleine hier hoch, da ihr Wanderkollege bereits in Yak Kharka wegen Akklimatisationsproblemen umkehren musste. Wir begrüßen uns freudig und schieben uns gegenseitig die wirklich letzten, finalen 15 Minuten punktgenau zum Thorong La Pass hoch… 12-13-14-ENDLICH! Endlich! Unglaublich, aber wahr, ju-huuu ! ! !
Oben angekommen, erwarten uns Freudentränen, Feuerwerk und große Euphorie! Hunderte von Gebetsfahnen jubeln uns zu, einfach überwältigend! Ein Schild gratuliert uns zu unserem Erfolg, gesund und munter hier und heute auf 5416 Metern über dem Meeresspiegel, dem höchsten Punkt des Annapurna Circuit, zu stehen. Danke – sehr aufmerksam. Die Schweizerin und ich fallen uns erleichtert in die Arme, für viele Worte fehlt die Luft. Leider sehe ich sie danach nie wieder.

Feuerwerk und Jubel. Ich bin sehr glücklich hier zu stehen!

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Das Video ist nur kurze 12 Sekunden lang, da mir sonst der eine oder andere Finger abgefroren wäre. Der strahlende Sonnenschein trügt.
Nach zwei, drei »We Made It«– Fotos ist dann auch schon alles vorbei. Der Wind wird immer stärker und stärker, und so rennen plötzlich alle Hardcore-Hiker, Lebenskünstler und Orientierungslosen, den Pass auf der anderen Seite wieder hinunter, als ginge es um Leben und Tod. Geht es eventuell auch. Auch Serap ist dabei, da ist sie also wieder.
»People die from the wind« hallt es wieder in meinen kalten Ohren, mein Kopf dröhnt und auch meine Bleibeine stolpern nun die nächsten endlos scheinenden fünf Stunden und gut 1650 Höhenmeter, den ewig langen Bergpfad durch vegetationslose Schotterlandschaft hinunter, immer weiter Richtung Kali-Gandaki-Tal, der tiefsten Schlucht der Erde… auch das noch. »WARUM?!?« – die meist gefürchtete Sinnkrise eines jeden Wanderers überkommt mich.
Blick vom Thorong La ins Kali-Gandaki-Tal. Weit hinten sieht man die südlichsten Gipfel des Mustang Gebirges.
RICHTUNG MUKTINATH
Auf halber Strecke mache ich vor einem Teehaus Rast. Die Mittagssonne brennt auf meinen Kopf und langsam kehrt Leben zurück in meine Hände, die ich nun langsam aus den Handschuhen pelle. Auch meine arme, rote, geschwollene Nase taut allmählich auf. Als ich nach den Haferkeksen in der Seitentasche meines Rucksacks greife, rieseln Plastikfetzen und Kekskrümel durch meine Finger – diese verdammten Mäuse! Nach der Pause wandere ich noch drei weitere Stunden ins Tal hinab. Zu allem Überfluss verpasse ich eine Abzweigung und verlaufe mich kurz, was mir noch mal weitere zwei Kilometer beschert. Wer hat, der kann…

Der Weg nach Muktinath
In Muktinath angekommen, schaffe ich es gerade noch, eine SMS Richtung Heimat zu schicken, mit der Aufforderung, mich bis an mein Lebensende daran zu erinnern, dass ich so eine Aktion wirklich nie-nie wieder tue. Schnell noch paar Nachrichten an Freunde, denen ich stolz von meiner neuesten Heldentat berichte, bevor ich dann in einen komatösen Schlaf falle… und gegen Abend hungrig, durstig, immer noch müde, aber irgendwie glücklich wieder erwache.
Das war er also! Der Pass auf dessen Überquerung ich mich monatelang mental vorbereitet hatte. Es war nicht so schlimm wie befürchtet, es war schlimmer! Und ich kann nicht einmal sagen »Ja, aber die Laaaaandschaft am Tag der Passüberquerung hat diese für mich unmenschliche Anstrengung total entschädigt, Wooow-Momente bis zum Abwinken, Erleuchtung, Euphorie und göttliche Dimension!« Nein, denn eigentlich habe ich von der Landschaft -nichts- gesehen. Zuerst, weil es stockdunkel war, dann weil ich mich darauf konzentrierte, nicht zu sterben. Später verdeckten riesige Berge die Sicht auf andere riesige Berge und so starrte ich stundenlang nur auf die staubigen Schnürsenkel meiner Wanderschuhe. Ironischerweise liegt dieser Pass in Nepal aber inmitten wahrhaft schöner Landschaft, genau genommen der wirklich beeindruckendsten, die ich je gesehen habe. Die Tage vor und nach der Überquerung des Thorong La, sind voller dieser »Wow«-Momente, und doch bleibt einem nichts anderes übrig, als den Pass selbst zu überqueren, um auf die andere Seite des Trails zu gelangen und auch diese kennenzulernen.
Übrigens,… im nächsten Dorf angekommen, verrät uns eine zufällig gekaufte Postkarte mit einem hübschen Bild vom Pass, dass der Thorong La Pass, jetzt Achtung: THE HIGHEST PASS OF THE WORLD, der höchste begehbare Pass der ganzen weiten Welt ist! Wie genau ist es passiert, dass ich alles, wirklich ALLES über diesen Trail wusste, aber DAS an mir vorbeigegangen war!?
NACHWORT
Der Annapurna Circuit – eine Reise, die mich körperlich und mental an meine Grenzen gebracht hat. Hm, bei diesem Satz halte ich dann doch direkt inne: War das dieses berühmte »Seine eigenen Grenzen austesten«? Wenn ich versuche, mich genau in die intensivsten Momente der Passüberquerung zurückzuversetzen, würde ich definitiv sagen, dass es die (bisher) schlimmsten Stunden meines Lebens waren. So etwas möchte ich auf keinen Fall noch einmal erleben müssen, wie ich eingangs schon sagte: NIE WIEDER!
Räusper… heute allerdings, also ein paar Jahre später, komme ich wieder in leichte Verzückung, wenn ich an die wunderschöne Natur Nepals denke, an die gigantischen, magischen und beeindruckenden Berge, die klare Luft, die Düfte, die Klänge, der Zauber, das Lächeln der Menschen… und eigentlich aber war es doch gar nicht sooo übel, oder? …ach, das bisschen Anstrengung… das ist doch so schnell vergessen… und irgendwann… ja, irgendwann werde ich vielleicht noch einmal den Thorong La Pass überqueren… irgendwie war es ja doch ganz spaßig. ;-)


Dieser Beitrag wurde ausgezeichnet – und es ist mir eine Freude, mich Globetrotter Blogaward Gewinnerin nennen zu dürfen.
Da kann man ruhig mal klatschen.
Oh, und ein Interview zu der Wanderung, zu meiner Person und meinem Blog gab es auch, das findest du hier.
Weiterführende links
➜ In diesem Beitrag teile ich meine persönlichen Tipps für eine Wanderung in großer Höhe, speziell auf dem Annapurna Circuit.
➜ Lies mehr über mein Himalaya-Abenteuer und meine Akklimatisierungstour zum Ice Lake.
Ach, und ich hatte ja noch den Trail-Steckbrief des kompletten Annapurna Circuits versprochen:
TRAILSTECKBRIEF
ANNAPURNA CIRCUIT
Länge: Zwischen 150 und 230 Km , je nach Tourenvariante
Gesamtaufstieg: 6500 – 8500 Hm, je nach Tourenvariante
Höchster Punkt: 5416m (Thorong La Pass)
Start – Ziel: Besisahar – Nayapul // Alternativ Besisahar – Jomsom und von dort nach Pokhara fliegen
Dauer: 18 bis 20 Tage für die komplette Umrundung // 12 bis 15 Tage für die kleinere Runde bis Jomsom
Wegmarkierungen: Rot-weiße Markierungen für die klassische Hauptroute. Blau-weiße Markierungen für Nebenrouten und Alternativabschnitte. Wenn man vor hat die klassische Route hin und wieder zu verlassen, empfehle ich Wanderkarte oder funktionstüchtiges GPS dabei zu haben.
Schwierigkeitsgrad: Mittel – Schwierig (Was vor allem auf Kondition und Gesundheitszustand, nicht aber auf technische Schwierigkeiten zurückzuführen ist.)
ETAPPEN:
1. Besisahar – Ngadi Bazar (14 Km) // Hier gibt es schon direkt eine Alternativroute über Khasur die ich auch empfehle!
2. Ngadi Bazar – Jagat (15 Km)
3. Jagat – Bagarchap (22 Km)
4. Bagarchap – Chame (13 Km) // Bitte lauft bis Chame und nehmt nicht den Jeep, ihr würdet sonst so viel verpassen! Die geteerten, teils ziemlich staubigen Jeeppisten, übder die im Netz so viele meckern, kann man größtenteils auf Alternativrouten umgehen!
5. Chame – Pisang (17 Km)
6. Pisang – Ngawal (10 Km)
7. Ngawal – Manang (9 Km) // Von Pisang aus gibt es auch einen direkten Weg nach Manang, ich empfehle aber unbedingt den Weg über Ngawal.
8. Manang Ruhetag/Akklimatisierungstour (18 Km)
9. Manang – Yak Kharka (10 Km)
10. Yak Kharka – Thorung Pedi (9 Km)
11. Thorong Pedi – Thorong La Pass – Muktinath (14 Km)
12. Ausflug nach Tiri, Mustanggebiet
13. Muktinath – Kagbeni (9 Km)
14. Kagbeni – Jomsom (10 Km)
Da es entlang der Strecke zwischendurch immer wieder Ortschaften oder kleinere Lodges gibt, kann man die Tagesetappen auch (fast) beliebig abkürzen oder verlängern. Hierbei muss aber immer die Höhenregel „Climb High, Sleep Low“ beachtet werden!
