ANNAPURNA CIRCUIT – NEPAL
TRAININGSPLÄNE
Nach einem halben Jahr mentaler Vorbereitungszeit ist es endlich soweit:
Ich sitze im Flieger auf dem Weg nach Nepal. Ausnahmsweise bin ich mal ziemlich gefasst, schließlich bin ich angesichts der Gesamtsituation sehr gut vorbereitet. Ich weiß nahezu alles über den Trail auf dem ich die nächsten zwei Wochen meine Wanderskills zum Besten geben werde. Ich kenne die Hauptrouten, die Nebenrouten, die Verlängerungsrouten und die Alternativrouten, dazu die jeweiligen Höhenmeter, die Längen der Etappen, und auch, wie ich diese unterteilen oder zusammenfassen kann, ohne eine Anpassung an die Höhe zu gefährden. Ich kenne schwierige Passagen und habe diese genauestens in unzähligen Videos und Reiseforen analysiert und ausgewertet. So wägte ich ab, ob mir meine Höhenangst irgendwo eventuell einen Strich durch die Rechnung machen könnte. Könnte sie. Ignorierte ich dann aber doch.
Auch habe ich mich bei einem Reisemediziner über die Höhenkrankheit, ihre Symptome und was im Notfall zu tun ist informiert. Per 35 minütigem FAQ-Frage-Antwort-Notieren-Besser-Noch-Mal-Nachfragen-Fragebogen. Meine Reiseapotheke ist gefüllt für sämtliche Eventualitäten, auch gegen Tollwut und Cholera bin ich vorsichtshalber geimpft. Meinen neuen Minus-15-Grad-Komfort-Porsche-Schlafsack habe ich im Zelt im heimischen Garten probegeschlafen, meine Trekkingstöcke sind poliert, und meine 800er Merinosocken habe ich auch noch kurz vor Abfahrt in den Rucksack gequetscht. Ich bin ausgestattet bis unter die Zähne, es kann also nichts mehr schief gehen. Glaube ich.
»Der Annapurna-Circuit ist easy, bin selbst gänzlich untrainiert da hoch spaziert.« haben sie in den Foren geschrieben. Fürs gute Gefühl bin ich dann aber doch noch mal auf den Brocken gelaufen und auf den Müggelberg, das ist mit 114,8 Metern der höchste Berg Berlins. Das sollte reichen.
(Spoiler: Das reichte nicht.)
ANFLUG INS UNGEWISSE
Nachdem man mir im Flieger nach Kathmandu zwei Stunden Schlaf gegönnt hatte und dann mit einem lauten »GOOD MOOORNING!« Filterkaffee und kaltes Vanille-Croissant aus der Tüte ankündigte, klappe ich die Holzrolläden der kleinen Fenster neben mir hoch. Noch müde von dem viel zu kurzen Nickerchen reibe ich mir die verquollenen Augen: Was sind denn das für lustige Wolkentürme die da hinten aus den anderen Wolken herausschauen?! …bis ich verstand, oh wow, das sind ja Berge! Ach, das sind ja die Himaaalayas! Da wollte ich also die nächsten Tage rüberlaufen. Okay, das galt jetzt ein wenig der Dramatik, genau genommen wollte ich über den Hochgebirgspass Thorong La wandern, der sich auf 5416 Meter befindet. Zwar nur wenige Höhenmeter mehr als Brocken und Müggelberg zusammen, reichte aber, um bereits Wochen vor Abflug eine spannende Mischung aus Vorfreude und Panik in mir auszulösen.
Ich befinde mich in einer Zwei-Sitz-Reihe. Mein Sitznachbar wird auch gerade wach. Augenblicklich die Mission des jeweils anderen erahnend, nicken wir uns zustimmend zu. Unter Wanderern erkennt man sich irgendwie immer sofort und so kommen wir dann auch schnell ins Gespräch. Neben mir sitzt also Jeff. Er ist frisch gebackener Rentner und zusammen mit seinem Kumpel James, der einige Reihen vor uns sitzt, wolle er sich jetzt einen Lebenstraum erfüllen. Beide kommen aus Kanada und sprechen ein wenig Deutsch, denn sie waren Lehrer in Kanada. Jeff ist schon voller Vorfreude, die dann auch direkt aus ihm heraussprudelt und es stellt sich heraus, dass die beiden eine ähnliche Route laufen wollen wie ich. Das entnehme ich jedenfalls seiner wetterfesten Landkarte, die er aus der Seitentasche seiner Trekkinghose zaubert und zielsicher mit seinem Finger die zu wandernde Strecke nachzeichnet und alle Start- und Endhöhenmeter fehlerfrei benennen kann – pro Tag. Ich staune nicht schlecht und werde augenblicklich wieder nervös, weil ich hoffe, dass meine unzähligen, neon-pinken und -gelben Klebesticker mit sämtlichen Infos über den Trail, in meinem Wanderheftchen auch ja alle an ihrer Stelle haften bleiben .
TRAINING FOR VACATION
Während wir beide unseren Morgen-Filter-Kaffee schlürfen schauen wir auf die immer größer werdenden, massiven Berge die unter – nein, eher neben uns in Zeitlupe vorbeiziehen. Da werde ich bald sein, zuckt es mir durch den Kopf, direkt hinein in den immer nervöser werdenden Magen. Neben mir ist Jeff völlig aus dem Häuschen »Woooooooooooooow!!!!!!!!!« höre ich ihn alle Sekunden in seinen ergrauten Bart murmeln. »Ja. Wow.«, stimme ich ihm nickend zu. Ob ich in zehn Tagen, wenn ich morgens das Highcamp verlasse, auch noch so begeistert sein werde? Werde ich es überhaupt so weit schaffen? Werde ich irgendwann umkehren müssen? Bin ich gut genug vorbereitet? Wird mich ein Helikopter retten müssen? Wird mich ein Helikopter retten können? Gibt es in Nepal überhaupt Helikopter?!?
»Wie lange hast du trainiert… for the vacation?«, unterbricht Jeff plötzlich mein Gedankenkarussell.
Stille in meinem Kopf. T-r-a-i-n-i-e-r-t ??!?! Ich traute meinen Ohren nicht. Meinte er das ernst? Schließlich hatte man mir doch beteuert, dass der Trail so einfach sei, dass man keinesfalls t-r-a-i-n-i-e-r-e-n müsse? Was ist das überhaupt für ein furchtbares Wort und wieso ist es im selben Satz mit dem melodisch klingenden zuckersüßen Wort Urlaub?!
»Ähm, also ich war auf dem Brocken und auf dem Müggelberg.« , »Das ist der höchste Berg Berlins.« schiebe ich schon schnell hinterher und spekuliere darauf, dass sich das jetzt spektakulärer anhört als es in Wahrheit jemals war und hätte sein können.
»Oh wow, the Muggelberg, not bad.« Ich bin mir plötzlich nicht mehr sicher, wer hier versucht wen zu veräppeln.
»Und selbst?« lenke ich nichts Schlimmes ahnend, schnell ab.
»Oh, ich habe 10 Monate trainiert, every day. Ich hoffe, es wird reichen, for the trail, …and the altitude, for the upcoming efforts…and hardships, you know?«
Fast verschütte ich meinen Filterkaffee, denn erneut traue ich meinen Ohren nicht! Jeff hatte zehn Monate trainiert. Für einen Wanderurlaub. Zehn!
Ich höre noch beunruhigende Worte wie Fitnessstudio, Joggen, Tennis, gesunde Ernährung, Powerdrinks, Sauna und Magnesiumkur als mein heißlaufendes Paniktriebwerk zu meiner eigenen Sicherheit auf StandBy schaltet und meine Ohren somit auf Durchzug. Ich muss erst mal abkühlen und drehe die Lüftung über mir auf volle Stufe. Während mir so die erste Himalayaluft auf den Kopf bläst, schiebe ich noch unauffällig die Holzrolläden wieder ein wenig runter und lenke mich mit einigen Entspannungsübungen ab, die ich vor Abflug noch gelernt hatte.
Am Flughafen in Kathmandu verabschieden Jeff und ich uns dann und wünschen uns viel Glück. G-l-ü-c-k , und das für einen Urlaub, denke ich noch.
Da die Welt klein ist und so auch Nepal, treffe ich Jeff und James zwei Wochen später zufällig in Pokhara wieder. Beide tragen ein neues T-Shirt mit dem Aufdruck >>Nepali flat. Little bit up. Little bit down<<.
Nun ja… alle sind wir wohlbehalten über den Pass gekommen. Die einen beiden nur besser, die andere eine etwas schlechter.
➜ Von meinem Erlebnis der Passüberquerung lest ihr hier.